Vortrag für den Gesprächsabend der Johannisloge ´Wilhelm zur Unsterblichkeit´ am Freitag, den 01. Februar 2013
´Du musst dein Leben ändern.´ (von Br. H. J.)
Hochwürdiger Meister, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder,
wir haben kürzlich im Bruderkreis erörtert, wer im masonischen Sprachgebrauch ein ´Suchender´ ist. Ich möchte auf dieses Thema noch einmal eingehen und einige persönliche Bemerkungen nachtragen. Nach meinem Verständnis wird jeder Mensch ein ´Suchender´, wenn er das Bedürfnis verspürt, seinem Leben einen Sinn zu geben. Er wird dann nach einem Sinnhorizont suchen, mit dem er sich identifizieren kann. Ich folge bei meiner Darstellung dem kanadischen Kulturphilosophen Charles Taylor. Er bezeichnet mit dem Begriff ´Sinnhorizont´ den Komplex der Werte, die ein Mensch für sich als verbindlich anerkennt und seinen moralischen Urteilen zu Grunde legt. Doch wann entsteht überhaupt ein solches Bedürfnis, genauer: wann wird dieses Bedürfnis so stark, dass wir uns auf ´die Suche´ machen? Meinem Vortrag stelle ich ein literarisches Beispiel voran. Die Worte ´Du musst dein Leben ändern´ stehen in einem Gedicht von R. M. Rilke aus dem Zyklus ´Der neuen Gedichte anderer Teil´ von 1908. Das Sonett trägt den Titel: ´Archaischer Torso Apollos´ und lautet wie folgt:
Wir kennen nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.
Wir können uns vorstellen, dass der Dichter bei der Betrachtung der Skulptur in eine Stimmung geraten ist, in der er gleichsam sich selbst auffordert, sein Leben zu ändern. Darin liegt eine Antwort auf den Eindruck des apollinischen Geistes, der den Besucher seines Heiligtums in Delphi aufforderte, sich selbst zu erkennen. Der Dichter wird durch die Reflexion über sich selbst in eine Befindlichkeit geworfen, in der er spürt, dass er in seinem Leben etwas Wesentliches vergessen hat. Er verspürt das Bedürfnis, etwas zu tun, etwas in seinem Leben zu ändern, um das Vergessene zu finden. Wir können uns den Eindruck des apollinischen Geistes wie die Stimme des sokratischen Dämons vorstellen. Dieser Dämon sagte auch nicht, was Sokrates in einer bestimmten Situation tun soll; der Dämon meldete sich vielmehr in der Weise, dass er von einer beabsichtigten Handlung abriet. Dem vergleichbar ist die Begegnung mit dem Göttlichen, das selbst in dem Torso noch als ein ´Sehen´ erlebt wird, eine Mahnung, die gewohnte Lebensführung zu ändern, ohne indes zu sagen, was ´in den Blick´ genommen werden soll. Die Antwort des Dichters lautet: ich muss mein Leben ändern.
Die Betrachtung eines Kunstwerks ist nur ein Beispiel. Es ist eine bekannte Erfahrung, dass in bestimmten Situationen unsere Grundstimmung eintrübt, dass wir bedrückt werden. Eine solche Situation kann auch durch eine Lebenskrise, ein Gespräch oder ein sonstiges Erlebnis entstehen, das uns unerwartet vor einen Spiegel unseres Selbst führt. Dann fühlen wir, dass das vertraute alltägliche Leben ´irgendwie´ keinen Schutz, keinen festen Halt mehr bietet. Dann mag die Frage auftauchen: was muss ich tun, um wieder Halt zu finden, wieder geborgen und heiter leben zu können? Die Antwort wird zumeist lauten: ich müsste in meiner Lebensweise etwas ändern, wenn auch unklar bleibt, was dieses ´Etwas´ sein soll. In einem sehr weiten und unbestimmten Sinn beginnt damit die Suche nach einer Orientierung, die das Leben wieder ´stimmig´ macht - mit Heidegger könnte man auch sagen: es wieder ´in eine Lichtung´ führt. Bei diesem Aufbruch kann z. B. der Entschluss entstehen, u.a. eine Loge zu besuchen, um zu hören, was denn die Freimaurer für diesen Fall ´anzubieten´ haben.
Meine Antwort lautet: die Freimaurerei in der Lehrart der Großen Landesloge will dem Suchenden ein Konzept vermitteln, das Anleitungen bietet, wie er sich zu einer Persönlichkeit entwickeln kann, die die Idee einer christlich fundierten Humanität verwirklicht.
Dieses Konzept besteht grob skizziert aus drei Momenten. Das erste Moment ist die Idee der Humanität. Diese Idee ist begrifflich schwer zu fassen, zumal der Begriff kulturgeschichtlichen Bedeutungswandlungen unterworfen gewesen ist. Der Begriff entstammt der spätantiken Philosophie. Ein ´homo humanus´ ist der Mensch, der sein Leben so einrichtet, dass er das wesentlich ´Menschliche´ in seiner Persönlichkeit ausbildet. Die platonische Philosophie ging davon aus, dass der Mensch eine Vernunft besitzt, die mit den Augen des Geistes die kosmische Ordnung erkennen kann und kraft dieser Erkenntnis das Gute will. Die christliche Dogmatik des Mittelalters überlagerte diese Bedeutung. Sie bewertete die ´conditio humana´ als sündhaft und unfähig, von sich aus den Weg des Guten zu gehen, weil die Natur des Menschen durch den biblischen Sündenfall unter die Herrschaft der Materie geraten ist. Erst mit der Rückbesinnung der Renaissance auf die antiken Lehren entstand ein neues Selbstverständnis. Ich möchte an einem Text verdeutlichen, wie die Stellung des Menschen im Kosmos wieder aufgewertet wurde, und zwar zunächst noch im Rahmen der biblischen Schöpfungsgeschichte. Der Text entstammt der Feder des Renaissancephilosophen Giovanni Pico Della Mirandula (1463 – 1494). Er gehört zu der Florentiner Schule, die die platonischen Schriften in das Lateinische übersetzte. Pico lud 1486 die damalige gebildete Welt nach Rom ein, um mit ihr Thesen aus allen Wissensgebieten zu disputieren. Diesen Thesen stellte Pico eine Einleitung voran, die den Titel trug: ´Über die Würde des Menschen´. Die Disputation verbot der Papst – die Einladung durfte erst posthum 1496 erscheinen. Doch dieser Text beurkundet gleichsam die Geburt der ´autonomen Persönlichkeit´. Ich zitiere aus dieser Schrift einen etwas längeren Text, weil er das Selbstverständnis des Menschen seit dem Beginn der Neuzeit überaus anschaulich schildert: ´Bereits hatte Gottvater, der höchste Baumeister, dieses irdische Haus der Gottheit, das wir jetzt sehen, diesen Tempel des Erhabensten, nach den Gesetzen einer verborgenen Weisheit errichtet. Das überirdische Gefilde hatte er mit Geistern geschmückt, die ätherischen Sphären hatte er mit ewigen Seelen belebt, die materiellen und fruchtbaren Teile der unteren Welt hatte er mit einer bunten Schar von Tieren angefüllt. Aber als er dieses Werk dann vollendet hatte, da wünschte der Baumeister, es möge jemand da sein, der die Vernunft eines so hohen Werkes nachdenklich erwäge, seine Schönheit liebe, seine Größe bewundere. Deswegen dachte er, nachdem bereits alle Dinge fertiggestellt waren, zuletzt an die Schöpfung des Menschen. Nun befand sich aber unter den Archetypen in Wahrheit kein einziger, nach dem er einen neuen Sprössling hätte bilden sollen. Auch unter seinen Schätzen war nichts mehr da, was er seinem neuen Sohn hätte als Erbe schenken sollen, und unter den vielen Ruheplätzen des Weltkreises war kein einziger vorhanden, auf dem jener Betrachter des Universums hätte Platz nehmen können. Alles war bereits voll …. Aber es wäre der väterlichen Allmacht nicht angemessen gewesen, bei der letzten Zeugung zu versagen. … Daher ließ sich Gott den Menschen gefallen als ein Geschöpf, das kein deutlich unterscheidbares Bild besitzt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach zu ihm: Wir haben dir keinen bestimmten Wohnsitz noch ein eigenes Gesicht, noch irgendeine besondere Gabe verliehen, o Adam, damit du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle Gaben, die du dir sicher wünscht, auch nach deinem Willen und nach deiner eigenen Meinung haben und besitzen mögest. … Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt … Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch als einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünscht. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehes zu entarten. Es steht dir ebenso frei, in die höhere Welt des Göttlichen dich durch den Entschluss deines eigenen Geistes zu erheben.´ Dieses Selbstverständnis modifiziert erkennbar den biblischen Schöpfungsmythos. Der Mensch weiß wohl, dass er bei seiner natürlichen Geburt unvollkommen ist. Doch dieser Mangel erhält einen völlig neuen Sinn. Der Mangel wird als Chance umgedeutet. Der Mensch versteht sich nun als das einzige Wesen im Kosmos, das die Freiheit und die Vernunft erhalten hat, seinem Leben einen eigenen Entwurf zu Grunde zu legen, durch den er selbst entscheidet, was er aus sich machen will. Mit anderen Worten: der Mensch kann seine natürliche Unvollkommenheit überwinden, indem er sich perfektioniert. Der Humanist Erasmus von Rotterdam hat die Konsequenz dieser Auffassung in die Worte gefasst: ´Ein Mensch wird nicht geboren, sondern gebildet´. Der Renaissancehumanismus verstand diese Bildung noch vorrangig als eine Kultivierung durch das Studium der ´freien Wissenschaften´. Doch die eigentliche Sprengkraft lag in dem Gedanken, dass der Mensch kraft seiner natürlichen Veranlagung bestimmen kann, in welcher Weise er ´in der Welt sein´ will. Die Humanität, d.h. das, was das Menschliche des Menschen ausmacht, ist seine Freiheit im Reiche der praktischen Vernunft. Sie begründet, wie Kant später formulieren wird, das Faktum, dass ´der Mensch über allen Preis erhaben´ ist und einen unabdingbaren inneren Wert besitzt. Die Aufklärung seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts erweiterte und vertiefte das Verständnis der menschlichen Autonomie. Sie verabschiedete die antiken Vorstellungen, der Mensch sei in eine kosmische Ordnung eingebunden, ebenso wie die christliche Vorstellung, der Mensch sei der göttlichen Providenz unterworfen. An die Stelle transzendenter Vorgaben setzte der aufgeklärte Humanismus die kritische Vernunft des Menschen. Die Denker der Aufklärung verstanden den Menschen als einen Künstler, der, wie der göttliche Weltenbaumeister, kraft seiner Vernunft über Weisheit, Stärke und Schönheit verfügt, um sein Leben zu planen, auszuführen und mit Tugend zu verzieren. Die Kultur wird zur zweiten Natur des Menschen, genauer: der Mensch wird erst durch die Kultur zu dem ´homo humanus´, der er seiner natürlichen Veranlagung nach werden kann. J. G. Herder, der ein Freimaurer war, formulierte diesen Gedanken in seinen ´Briefen zur Beförderung der Humanität´ wie folgt: ´Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts, er ist uns aber nur in Anlagen angeboren, und muss uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unseres Bestrebens, die Summe unserer Übungen, unser Wert sein´.
O. Höffe, ein zeitgenössischer Philosoph, schreibt: ´Die Idee der Humanität bezeichnet eine (in dem Wesen des Menschen als Muster vorfindliche) Aufgabe, die in einem nie abgeschlossenen Prozess der Bildung, der Selbstfindung und des Selbstentwurfs näher zu definieren und aus eigenem Antrieb auszuführen ist. Humanität ist das stets riskante Unternehmen der Individuen und der Gesellschaft, zu sich selbst zu kommen und ein gelungen-erfülltes Leben … zu führen.´ Diese Begriffsbestimmung lässt erkennen, dass die Idee der Humanität ein formaler Wert ist, der konkretisiert werden muss. Der Begriff der Humanität bezeichnet vorrangig die Potentialität des Menschen, die Persönlichkeit zu werden, die er sein will. Mit anderen Worten: die Idee der Humanität bezeichnet einen Entwicklungsprozess, der sich gleichsam selbst steuern kann und auch steuern muss. Der Richtwert ist die wahrhaft humane Persönlichkeit. Nach der Lehrart unseres Ordens muss der Suchende erkennen, dass er diese bevorzugte Stellung im Kosmos dem ursprünglichen göttlichen Schöpfungsakt verdankt. Die Idee der Humanisierung enthält deshalb nicht nur eine Möglichkeit – sie muss ebenso als die Verpflichtung verstanden werden, sich dieser Möglichkeit würdig zu erweisen.
Die Freimaurerei hat das erste und wohl wichtigste Moment in einer umfassenden Symbolik versteckt. Die historisch nachweisbare Freimaurerei entstand etwa Anfang des 17. Jahrhunderts mit dem Aufkommen einer bürgerlichen Gesellschaft, die unter den Bedingungen einer absoluten Monarchie lebte. Der Repräsentant des Staates, der absolute Herrscher, stellte seine Politik über die Moral. Der Mensch war im Verhältnis zum Staat Untertan. Er war Bürger nur in einem gesellschaftlichen Binnenraum, der von der politischen Macht ausgeschlossen war und auch ausgeschlossen bleiben sollte. Unter diesen historischen Bedingungen konnte das Bedürfnis, die Rechte des Individuums gegenüber dem Staat, die Probleme einer aufgeklärten Sittlichkeit und die Reform der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erörtern, nur in kleinen und verborgenen Kreisen, Zirkeln, Salons oder Akademien befriedigt werden. Die geistigen Eliten des gehobenen Bürgertums und des niederen Adels, vornehmlich in England, entdeckten in den Bauhütten oder Logen der operativen Steinmetze geeignete Strukturen, Gebräuche und Werkzeuge, um diese zu Sinnbildern der freimaurerischen Ziele ´umzufunktionieren´. Denn die Steinmetze tradierten seit Jahrhunderten ein Wissen in der Kunst, eine unsichtbare geistige Wirklichkeit in sichtbare und greifbare Realität zu übersetzen. So wurden die Einweihungsrituale der Steinmetze ebenso wie deren Werkzeuge und Materialien mit einer symbolischen Bedeutung aufgeladen, die dem ethischen Konzept der Freimaurerei entsprach. Die Bausymbolik prägte deshalb seit dem Beginn der Freimaurerei das Gebrauchtum der Großlogen aller Lehrarten und prägt diese bis heute. Die Metapher vom ´Bau eines Tempels´ versinnbildlicht die Bestimmung des Menschen, seine natürliche Natur zu einer sittlich authentischen Persönlichkeit zu perfektionieren. Kant wird später sagen: die Idee der Humanität ´anzubauen´. Vor dem Hintergrund der Bausymbolik hat die Aufnahme in eine geöffnete Loge die Bedeutung, gleichsam die ´Baustelle´ der je eigenen Persönlichkeit zu betreten. Der Suchende wird vor eine Arbeitstafel gestellt, auf der Figuren gezeichnet sind, die das Material, die Werkzeuge und den Bauplan symbolisieren, die er benutzen muss, um sein Selbst zu einem Abbild des ´Salomonischen Tempels´ zu errichten. Ich möchte betonen, dass die Arbeitstafel mit den symbolischen Figuren unmissverständlich das Selbstverständnis des aufgeklärten Humanismus widerspiegelt. Denn diese Symbolik setzt voraus, dass der Mensch überhaupt geistig in der Lage ist, die ´Menschheit in seiner Person´ zu realisieren.
Das zweite Moment der Freimaurerei besteht darin, dem Suchenden ein Konzept zu vermitteln, das gleichsam die Baupläne für den Tempel der Humanität aufzeigt, mit anderen Worten: einen Wertehorizont zu eröffnen, der die Idee der Humanität durch bestimmte Werte konkretisiert, Dieses Konzept wird stufenweise vermittelt, wobei jeder Grad neue Facetten des Wertehorizonts zeigt, nach denen er seine innere Haltung ausrichten und festigen soll. Ich kann das Ethikkonzept der Freimaurerei hier nur andeuten, zumal die Lehrarten auch unterschiedliche Akzente setzen. Konstitutiv für die Konzepte aller Lehrarten sind die bekannten Leitwerte der Aufklärung, nämlich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Toleranz, eben die Werte, die zu Eckpfeilern der abendländischen Kultur geworden sind. Ich will nicht verschweigen, dass diese Werte in der Symbolik der Ordenslehre nur unvollkommen artikuliert werden – eigentlich erst in der geltenden Fassung der Ordensregel aus dem Jahre 1973. Die Symbolik wie auch die Rituale der Ordenslehre stellen vielmehr eine Tugendlehre in den Vordergrund, die ältere Traditionen aufnimmt. Es sind einmal bürgerliche Tugenden, wie Arbeitsamkeit, Gehorsam und Verschwiegenheit; weiterhin werden die Standhaftigkeit und der Mut genannt, Tugenden, die in ritterlichen Traditionen wurzeln und verdeutlichen, dass die Moralisierung nicht nur einen festen Willen zum Guten verlangt, sondern gegen die Anfeindungen der sinnlichen Neigungen und Begierden gleichsam mit geistigen Waffen errungen werden muss. Diese vernunftgemäßen Tugenden werden in den höheren Erkenntnisgraden durch die christlichen Kardinaltugenden ergänzt, nämlich Glaube, Liebe und Hoffnung. Diese Facette des Ethikkonzepts beruht auf der Lehre Jesu Christi, wie sie in der Heiligen Schrift enthalten ist. Der innerweltliche Wertehorizont wird damit durch den Blick auf eine transzendente Wertewelt erweitert und in einer religiösen Dimension verankert.
Die ´Verwandlung´ ist das dritte Moment des Gesamtkonzepts unserer Ordenslehre. Die Verwandlung ist eine Metapher, die das Dasein des Menschen in einem umgreifenden Geschehen verortet. Das Grundmodell ist die neuplatonische Vorstellung, dass die vielen Dinge dieser Welt aus dem All-Einen fließen und danach streben, zu dem All-Einen zurück zu fließen. Diese Rückkehr wird als eine Entwicklung gedacht, die in einer Entmaterialisierung besteht. Denn der Geist des All-Einen wird bei seinem Abstieg in die sublunare Welt von der Materie gebunden. Die Kirchenväter haben dieses Modell für die Konzeption der Heilsgeschichte übernommen. Die Schöpfung ist der Ursprung dieser Geschichte und die Rückkehr in das Reich Gottes das Ziel. Das bedeutet für das Dasein des Menschen, dass er ein Geschöpf Gottes ist, das sich ursprünglich der Gemeinschaft mit seinem Schöpfer bewusst war. Doch das Bewusstsein dieser Gemeinschaft ging mit dem Sündenfall verloren. Die Rückkehr in das Reich Gottes ist deshalb nur möglich, wenn der Mensch sich seiner Gotteskindschaft wieder bewusst wird. Diese Rückbesinnung bedingt eine ´Ver-innerlichung´, d.h. den Weg nach Innen in das je eigene Selbst. Dort liegt der ´Funke des göttlichen Geistes´, dessen Gaben den Suchenden zu einem neuen Leben in der Gemeinschaft mit Gott aufrichten. Die Verwandlung ist ein Bild dafür, dass die Suche den Modus des ´In-der-Welt-seins´ bis an die physische Grenze verändert. Vor dem Hintergrund der Bausymbolik hat die Ordenslehre diese Vorstellungen in eine Legende gekleidet, die von dem Schicksal eines vollkommenen Baumeisters erzählt. Dieser Baumeister war vollkommen, weil er, sehr verkürzt gesagt, in der Gemeinschaft mit Gott lebte. Er ist gleichsam der Archetyp, der im Seelengrund des Menschen verborgen ist. Die Suche gestaltet die Ordenslehre in der Tradition der christlichen Mystik. Die Verwandlung besteht nach dieser Tradition darin, dass der Mensch die Ebene der Neigungen und Leidenschaften überwindet, indem er sich von den Einflüssen der materiellen Lebenswirklichkeit weitgehend frei macht. Der Suchende kann nach dieser Reinigung den verborgenen Funken in seiner Seele erkennen und in das Ich-Bewusstsein integrieren. Diese Erleuchtung öffnet sein Ich-Bewusstsein für einen neuen Sinnhorizont, nämlich den Sinnhorizont, den die Lehre Jesu Christi aufzeigt. Die Einübung einer tugendhaften Haltung ist nach dem mystischen Verständnis der Verwandlung kein Endzweck – sie öffnet erst den Blick in das Selbst, in dessen Grund der je eigene göttliche Funke liegt. Diese religiöse Dimension der sittlichen Perfektionierung beantwortet auch die Frage, warum der Mensch sich überhaupt veredeln soll, wenn das Humanum doch in der Freiheit besteht, sich auch den Leidenschaften hinzugeben: der symbolische Bau eines geistigen Tempels ist Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach einer ´neuen Geburt´ in ein Dasein, das ´wie einst´ in der Gemeinschaft mit Gott lebt.
Ich möchte die Bedeutung der Metapher vom ´ Großen Tempelbau´ noch einmal verdeutlichen, indem ich einen Ritualtext zitiere. Es heißt dort: ´Wenn auch die Finsternis Macht hat, den Erdboden zu bedecken und die Wahrheit den Sterblichen zu verhüllen, so bewahrt doch der Vater der Liebe und Weisheit in dem Herzen des Menschen den Funken des Lichtes. Er hat die Hoffnung, es wieder zu entzünden, in dasselbe gesenkt und einigen seiner redlichen Diener gestattet, der Erkenntnis und der Wahrheit einen Tempel zu errichten, von dem die Strahlen des Lichtes ausgehen sollen, um mit erneuter Kraft die Schatten des Irrtums zu zerstreuen. Die göttliche Liebe legte den Grund zu diesem Gebäude, damit das Geschlecht nicht in Nacht und Dunkel untergehe. … ´.
Letztlich möchte ich auf die Frage eingehen, ob das Gesamtkonzept, das die Freimaurerei anzubieten hat, dem modernen Bedürfnis nach einem authentischen Sinnhorizont entspricht oder ob es vielmehr antiquiert ist? Denn die Freimaurerei formulierte die Rituale und das diesen zu Grunde liegende Ziel der menschlichen Entwicklung vor mehr als 200 Jahren. Daraus ergeben sich folgende Einwände: die historische Freimaurerei ging von einem Menschenbild aus, das damals neu war, jedoch zwischenzeitlich ´selbstverständlich´ geworden zu sein scheint. Die zentralen Werte der Humanität, die Würde des Menschen, seine Freiheitsrechte und religiöse Toleranz sind nach und nach in die Verfassungen vieler Staaten und völkerrechtlicher Intuitionen eingeflossen. Darüberhinaus gründet die Freimaurerei auf einer religiösen Weltdeutung: die Lehrart der GLL ausdrücklich auf dem Christentum, viele andere Lehrarten auf dem Deismus und weltweit verlangt die englische Mutterloge in der Fassung der sogenannten ´Basic Principles´ von 1989 für die Anerkennung einer Großloge, dass ´Freimaurer an ein höchstes Wesen glauben´. Dem stehen jedoch die Verabschiedung metaphysischer Weltdeutungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und die Dominanz des naturwissenschaftlichen Weltbildes entgegen, die zu einer Säkularisierung geführt haben, die das Humanum mehr oder weniger allein in der naturgegebenen Organisation des Menschen sieht. Und letztlich: die moderne Kulturphilosophie neigt zu einem Kulturalismus, der es fraglich macht, ob Angehörige verschiedener Kulturen sich überhaupt wirklich ´verstehen´ können. Die Freimaurerei geht demgegenüber mit der Vorstellung einer weltweiten Bruderkette von einem ´Humanum´ aus, das den Menschen aller Kulturen gleichermaßen zukommt, das mithin kulturinvariant ist. Der Wertehorizont der Freimaurerei stellt mithin eine Facette in dem Portrait der modernen Identität dar, der quer zu manchen gegenwärtigen Strömungen steht. Es wird Sie nicht wundern, wenn ich gleichwohl der Ansicht bin, dass die Freimaurerei einem Suchenden ein Konzept vermitteln kann, das in der Pluralität der modernen Lebenswirklichkeit einen festen Stand und sichere Orientierung bietet. Ich will für diese Ansicht nur zwei Überlegungen zur Diskussion stellen.
Erstens: vermutlich wird der eine oder andere gegen meine Würdigung der autonomen Persönlichkeit einwenden, dass er sein Leben schon immer nach seinen eigenen Vorstellungen geführt habe. Doch die Bedingungen für die Möglichkeit, ein selbst-bestimmtes Leben zu führen, sehen faktisch anders aus. Wir führen unser Leben zumeist in einem Sinnhorizont, den wir gerade nicht selbst entworfen haben. Die moderne Kulturphilosophie geht davon aus, dass der Mensch sein Leben nach Werten ausrichtet, die er zunächst mehr oder weniger unreflektiert übernimmt. Denn er wird in eine konkrete Kultur hineingeboren und in dieser Kultur erzogen. Die Einbindung in einen Kulturraum ist unhintergehbar; wir werden in diesen Kulturraum gleichsam ´hinein geworfen´ und passen unser Leben an das kulturelle Umfeld an, in dem wir uns jeweils bewegen. Dieser Modus des ´In-der Welt-seins´ ist ein Grund dafür, dass das Bewusstsein bei vielen Menschen verloren gegangen ist, dass der Mensch – wie Herder gesagt hat – seine Humanität eben nicht ´fertig auf die Welt mitbringt´. Er muss sie sich vielmehr erst erarbeiten. Eben deshalb verspürt auch der moderne Mensch, besonders ausgelöst in Grenzsituationen, eine innere Fehlhaltung, ein Bedürfnis, seine ihm je eigene Identität zu finden. Ausdruck dieser Sinnsuche ist das eingangs genannte Gefühl: ´ich muss mein Leben ändern! Bei dieser Suche bietet das Konzept der Freimaurerei eine praktische Wegweisung an.
Zweitens: schon die historische Freimaurerei verstand darüber hinaus den ´Tempel der Humanität´ nicht nur als ein individual-ethisches Ziel. Es ist meine Auffassung, dass die Idee der Humanität auch eine gesellschaftspolitische Konzeption implizierte - wir würden heute von einem bildungspolitischen Reformprojekt sprechen. Die Vision bestand in einer Gesellschaftsordnung, die es jedem Menschen ermöglicht, die Person zu werden, die er seinem Wesen nach werden kann. Das setzt voraus, dass der Mensch seine wesensgemäße Perfektibilität ´entfalten´ kann. Dieses große kulturelle Ziel prägt die Freimaurerei weltweit noch immer, und es gilt, das begonnene Reformprojekt auch unter den Bedingungen der Gegenwart zu verwirklichen. Die Freimaurerei will ein Gegen-Entwurf sein gegen eine ökonomisch-technische Welt. Die Gefahr besteht in der Dominanz einer ökonomischen Weltsicht, die den Menschen mehr und mehr instrumentalisiert, d.h. mit den Worten Kants ´nur als Mittel´ betrachtet. Unterstützt durch die technologische Entwicklung, vor allem der – mit einem Ausdruck Heideggers - ´Denkzeuge´ wurden die wirtschaftlichen Möglichkeiten nahezu, im eigentlichen Sinne des Wortes, ent-grenzt. Mit der Globalisierung hat der Kapitalismus einen ungeahnten Aufschwung genommen und bestimmt gegenwärtig die Rahmenbedingungen der sozialen und kulturellen Entwicklung. Die Mechanismen dieser technisch-ökonomischen Welt verletzen die Würde des Menschen. Denn sie wollen ihn funktionalisieren und in seine geistig-sittliche Autonomie eingreifen. Die Gefahr, die von diesen Kräften ausgeht, tritt gleichsam unter einer ´Tarnkappe´ auf. Denn die Exponenten der globalisierten und säkularisierten Welt vertreten keine Institution, die man – wie früher den Absolutismus - ´stürzen´ könnte. Sie bewegen sich vielmehr in einem Netzwerk und berufen sich auf vermeintlich zwingende, unumkehrbare Entwicklungen – auf ihre sogenannte Systemrelevanz. Das Individuum droht unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen erneut seine schöpferische Freiheit zu verlieren, wenn nicht gar in das Dunkel einer kollektiven Unmündigkeit zu versinken. Das Projekt der Aufklärung, d.h. die Befreiung aus ungewollter Unmündigkeit, ist deshalb noch lange nicht beendet. Die Freimaurerei versteht sich auch unter diesem Gesichtspunkt als eine weltweite Gemeinschaft, die nach wie vor für die Realisierung einer aufgeklärten, humanen Gesellschaft arbeitet.
Ich danke für die Geduld, mit der Sie zugehört haben.
1 Ich möchte interessierte Gäste und Brüder auf ein Buch von Charles Taylor hinweisen; es heißt: Quellen des Selbst, erschienen im Verlag Suhrkamp, 1996, C. Taylor geht darin den kulturellen Entwicklungen nach, die den Sinnhorizont des modernen Selbst prägen. 2 Pico della Mirandula, Giovanni, Über die Würde des Menschen, 1486, nach der Ausgabe von H.W. Rüssel im Manesse Verlag, 1989, S. 8f. 3 Herder, J. Gottfried, Brief zur Beförderung der Humanität, 1793-97, Zitat aus dem 27. Brief 4 Höffe, Ottfried, Lexikon der Ethik, 7. Aufl., 2008, Verlag C.H.Beck, Stichwort Humanität, S. 139 5 Siehe hierzu im Einzelnen: Koselleck, Reinhart, Kritik und Krise, Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Gesellschaft, 1973, Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 36
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